Berlin des Anfangs des 20. Jahrhunderts war, anders als auf den Photographien, schillernd und bunt. Ich fing in einem Kabarettschuppen an, dem Chat Noir, noch bevor dieser, als der Nationalismus auch in den Alltag Einzug hielt, in Schwarzer Kater umbenannt wurde. Machte weiter mit meinem eigenen Kabarettschuppen, dehnte mein Geschäft aus, indem ich zwei weitere Häuser erwarb, und fand ein jähes Ende Anfang der 30er Jahre, als ich mich gezwungen sah, meine Häuser zu schließen und das Geld zwischen meinen Angestellten und mir aufzuteilen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Noch sind wir im lebenslustigen Berlin der Weimarer Republik. Als ich eine Varietétänzerin im Chat Noir war, gönnte ich mir nur wenig Schlaf, denn ich wollte das Leben auskosten bis zum letzten Tropfen. Damals standen mein Vater und ich uns sehr nahe, nicht wie Vater und Tochter, sondern wie Geschwister, die wir vom Alter her auch waren. Wir trafen uns nahezu täglich im Romanischen Café. Wenn ich ihn sehen wollte, brauchte ich nur hinzugehen und fand ihn in diesem Café, wo Künstler in Wartestellung ihrer Entdeckung harrten, wo hübsche Frauen mit Bubikopf und Zigarette im Mundwinkel zwischen ihnen wie Vögel umherschwirrten oder schweigend und abschätzigen Blickes die geheimnisvolle Kühle markierten. Mein Vater besuchte das Café nicht, um entdeckt zu werden, sondern genoss lediglich diese Atmosphäre der Erwartung. Außerdem wurde er es nicht müde, die Leute zu beobachten, die so bunt und verschieden waren wie die einzelnen Zeitungsschnipsel einer Dada-Collage, und die doch zwei Dinge gemeinsam hatten: die Hoffnung auf eine einzige große Chance und die Furcht, sie zu verpassen. Das Romanische Café war ein zweites Wohnzimmer für meinen Vater, die Gäste seine Großfamilie.
Eines Tages jedoch traf ich ihn nicht an, am nächsten Tage ebensowenig. Nach einer Woche begann ich, mich um ihn zu sorgen. Nach einer weiteren Woche gab ich ein Telegramm auf. Ich kannte die Adresse seiner Wohnung und hätte auch selbst hingehen können, aber wir haben eine inoffizielle Abmachung: keine Überraschungsbesuche in der Wohnung und niemals einen anderen Vampir dazu zwingen, sich eine Erklärung aus den Fingern saugen zu müssen. Also gab ich ein Telegramm auf. Und bekam eine Antwort, als ich schon gar nicht mehr mit einer solchen gerechnet hatte: "Sehr gut. Ich bin verliebt. Gez. Konrad."
Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater sich verliebte, auch nicht das heftigste Mal, aber es war das erste Mal, dass sie ihn verließ, bevor er es tat.